Der Comer See: ein Magnet für die Reichen und Berühmten
Spread the love

Die Schneiderei von Alessandro Siniscalchi befindet sich am Ende einer Gasse abzweigend von der Viale Vittorio Veneto Straße im Zentrum von Mailand. Ich, der sich in Souvenirläden kleidet, wie meine Kinder zu sagen pflegen, kam zu einem der besten Schneider Europas, auf Empfehlung meines Freundes Alex. Altmeister Alessandro nahm meine Maße für mein Hemd und ich sagte ihm: „In Ordnung, Alex holt es ab, wenn er nach Mailand kommt!“.

„Nein, nein! Sie müssen zweimal zum Anprobieren kommen!“, antwortete Alessandro. In diesem Augenblick erinnerte ich mich an meinen Großvater, der ganze 68 Jahre als Schneider arbeitete, von seinem 13. Lebensjahr als Lehrling bis zu seinem Tod mit 81. Und ja, man kam auch bei ihm „zur Anprobe“. Aber was wissen wir, mit den T-Shirts „Malaga“, „Laos“ und „Sorrento“, schon darüber.

Die Schneiderei eröffnete Alessandros Vater noch 1948 und seitdem fertigen sie Hemden für Kunden aus ganz Europa an. Verschiedene Stoffe, ein Maßband, ein kleines Heft, in das der Maestro die Maße notiert, Puppen, an denen die Kleidung hängt – all das ist Teil der Atmosphäre einer alten Welt, die heute nur noch selten vorzufinden ist.

Mailänder Dom
Mailänder Dom

Der eintägige Ausflug zum Comer See begann im gleichnamigen Städtchen, dessen riesige Kathedrale aus dem 14. Jahrhundert einer Metropole würdig ist. Obwohl es ein gewöhnlicher Arbeitstag war, Mittwoch um genau zu sein, sah ich etwas, dass man in Italien und in anderen „alten“ katholischen Ländern Europas selten sehen kann – vor dem Beichtstuhl stand eine Reihe von Gläubigen, die dem Priester ihre Sünden beichten wollte. Kehren die Italiener zur Religion zurück oder handelt es sich um ein subjektives Gefühl, das ihnen sagt, sie haben zu viel gesündigt – es bleibt abzuwarten.

Eine von vielen Villen am Comer See
Eine von vielen Villen am Comer See

Vor fünf Jahren war ich im kleinen Städtchen Salo an der Küste des naheliegenden Gardasees. Hier befand sich von 1943 bis 1945 die Hauptstadt von Mussolinis Repubblica Sociale Italiana, ein Marionettenstaat, der unter der militärischen Protektion der Deutschen war und nach dem „Fall von Italien“ verschwand.

Hier am Ufer des Comer Sees im kleinen Ort Giulino di Mezzegra wurde der „Duce“ am 28. April 1945 verhaftet und hingerichtet. Benito Mussolini wurde gefangen, als er zusammen mit seiner Geliebten Claretta Petacci versuchte, getarnt in die Schweiz zu fliehen. Beide wurden hingerichtet, verstümmelt und halbnackt, mit dem Kopf nach unten auf einem Platz in Mailand aufgehängt. Ein romantisches Ambiente mit einer mittelalterlichen Brutalität – ein häufiges Vorkommen in der italienischen Geschichte. Neulich sah ich die Serie „Trust“, die von der Entführung des Enkels von Jean Paul Getty – dem reichsten Mann der Welt – handelt und die sich 1973 abspielte. Immer wieder sind in der Serie brutale Szenen zu sehen, wie z. B. „das Herunterwerfen des Verräters“ von den Mauern eines antiken römischen Gebäudes, „das hoch genug ist, um dich umzubringen, aber auch nieder genug ist, damit der Tod nicht sofort eintritt, sondern erst nachdem man mit zerschmetterten Knochen stundenlang gelitten hat!“ Das ist wohl die Art und Weise, wie die „La grande bellezza“ entsteht. Um Orson Welles aus dem Film „Der dritte Mann“ kurz zusammenzufassen: „Kriege und Morde während der Herrschaft der Medici in Florenz bescherten uns die Renaissance und Michelangelo. Was bescherten uns 800 Jahre Frieden und Wohlstand in der Schweiz – die Kuckucksuhr!“

Ein Hemd aus 1948: Meister Alessandro zeigt eines der ersten Hemden, die sein Vater eigenhändig nähte
Ein Hemd aus 1948: Meister Alessandro zeigt eines der ersten Hemden, die sein Vater eigenhändig nähte

Der Comer See ist ein Beweis dafür, dass man nicht unbedingt ein Meer braucht, um die Reichen und Berühmten anzulocken. Alle paar Hundert Meter sieht man unglaubliche Städtchen, Kirchen, Villen von George Clooney, Richard Branson, Villen von reichen Großindustriellen aus den Familien Guinness, Pirelli…

Während ich meine „Caprese“ und „Parmigiana“ mit einem lokalen Rotwein in einem kleinen Restaurant auf dem Platz des Städtchens Belaggio am Ufer des Comer Sees zu mir nehme, spielt ein junger Rumäne im Garten, allem Anschein nach ein Virtuose, auf der Gitarre. Einige Touristen kamen näher und fragten ihn sogar, in welchem Restaurant er heute Abend auftrete und ob sie eine CD mit seinen Liedern haben könnten. In einem Café in Varena, auf der anderen Seite des Sees, bringt mir der Kellner, ein Afrikaner, meinen Espresso und das WLAN-Passwort. Ein multikulturelles Bild eines neuen Italiens im Alltag – einigen gefällt es jedoch nicht.

„Vor ein paar Tagen ließ ein Richter einen Flüchtling aus Afrika, der eine Italienerin vergewaltigte, frei, mit der Begründung, dass ein solches Verhalten dort wo er herkommt, geduldet wird!“, erzählt mir der Taxifahrer rasend vor Wut, während er mich zur Mondadori Unternehmensgruppe am Stadtrand von Mailand fährt. „Wenn einer von denen meiner Tochter zu nah käme, wüsste ich, was ich tun würde!“, fährt er mit seiner Geschichte fort – „Wir brauchen hier einen neuen Mussolini oder einen Putin, um Ordnung zu schaffen!“ Nach einigen Minuten im Taxi war es für mich nicht schwer zu erahnen, wie der Rechtspopulismus in Italien an die Macht kam.

Im Palazzo Modadori, einem großen Geschäftsgebäude von einem der größten Medienhäuser Italiens (im Besitz von Berlusconi) war eine Konferenz zu Ehren des 80. Jubiläums des Mode-Magazins „Grazia“ im Gange, welches in 20 Ländern weltweit sehr erfolgreich publiziert wird. An den Wänden in der Lobby – Fotografien aus der Firmengeschichte, die 1907 vom damals 18-jährigen Arnoldo Mondadori gegründet wurde: Arnoldo und Ernest Hemingway, Arnoldo und Thomas Mann, Arnoldo und D’Annunzio,…

Neben der Rede des aktuellen Präsidenten des Unternehmens Ernesto Mauri und der berühmten, langjährigen Redakteurin des Magazins „Grazia“– Carla Vanni fand ich das Gespräch mit den drei Generationen der Missoni Familie besonders interessant, deren Modemarke eine der wenigen ist, die noch im Familienbesitz blieb. Die 86-jährige Rosita Missoni erzählte uns, wie sie ihren Ehemann Ottavio bei den Olympischen Spielen in London 1948 kennenlernte, als der im Wembley-Stadion in der Disziplin Hindernislauf antrat. Seine schnellen Beine reichten jedoch nicht aus, um einige Jahre zuvor der britischen Gefangenschaft zu entfliehen. Ottavio wurde nämlich nach der Niederlage von Mussolinis Italien bei El-Alamein zum Kriegsgefangenen.

Museo della Cultura
Museo della Cultura

Ottavio, geboren in Dubrovnik, der Vater Italiener, die Mutter Teresa aus der berühmten Familie Vidovic, sprach fließend Kroatisch. Neben Rosita waren noch ihre Tochter und ihr Enkel auf der Bühne. Alle drei arbeiten für das Familienunternehmen, entwickeln die 65 Jahre alte Marke weiter und lösen berufliche Unstimmigkeiten auf die „italienische Art“ – am Esstisch.

Galleria Vittorio Emanuele II
Galleria Vittorio Emanuele II

Die letzte Woche war im Zeichen der „Milano Fashion Week“, sodass in der ganzen Stadt Menschenmassen zu sehen waren, die Straßen waren voller Models, Modedesigner, Fotografen und Geschäftsleuten aus der Welt der Mode. Unsere Gastgeber organisierten die Feier zum 80. Jubiläum des Magazins „Grazia“ in einem spektakulären Ambiente des Rotonda della Besana, auf dessen Rasen sich die gesamte mailändische und ein Großteil der europäischen Modeprominenz wiederfand und das zusammen mit uns, den Verlegern dieses Magazins aus 20 Ländern weltweit, von Pakistan bis Kroatien. Die Frauen hatten so ihre Schwierigkeiten mit ihren High Heels auf der grünen Fläche und der Gang wurde mit jedem Glas Prosecco, der die Kehle hinunterfloss, immer instabiler. Als wir ins Hotel zurückgehen wollten, hatten die meisten Gäste bereits einen Platz zum Sitzen gefunden.

Am selben Abend konnten wir uns mithilfe des einst legendären Fußballspielers und heutigen Trainers Dejan Stankovic im Stadion „San Siro“ in Mailand das Spiel „Inter Mailand – Tottenham Hotspur“ ansehen. Für jemanden, der nicht sehr oft Fußballspiele besucht, war ich vom Verhalten der Fans beider Mannschaften sehr beeindruckt, aber auch von der Größe und Schönheit des Stadions, der Sauberkeit und der kreativen Kommerzialisierung jeder Ecke… Meine Kollegin Billy, die mit uns dabei war, lernte Massimo Moratti kennen, den berühmten Präsidenten von Inter Mailand von 1995 bis 2013. Moratti ist ein Ölmagnat, der 1,7 Milliarden Dollar „schwer“ und damit einer der reichsten Menschen Europas ist.

Das einzige Problem in San Siro ist, dass man nach dem Spiel im Umkreis von ein paar Kilometern kein einziges Taxi finden kann und Zehntausende Besucher laufen alle zu einer U-Bahn-Station. Falls ihr nicht mit einer Vespa gekommen seid, was übrigens die meisten machen, egal ob alt oder jung, bleibt nichts anderes übrig als eine Stunde bis zum nächsten Taxistandplatz zu spazieren. Bei einer „Burrata“ mit Schweinefleisch, Rosmarin und Wein im Bezirk Brera vergaßen wir jedoch die ganze Müdigkeit. Die bereits gemütliche Atmosphäre wurde durch eine junge Opernsängerin – allem Anschein nach eine Russin – noch gemütlicher, da sie auf der Straße gegenüber vom Restaurantgarten nahezu makellos Puccinis und Verdis Arien sang.

Am nächsten Tag aßen wir mit Sandra Gotelli, der internationalen Direktorin von „Mondadori“ im Restaurant „A Santa Lucia“ zu Mittag. Das womöglich beste neapolitanische Restaurant in Norditalien – gegründet mitten in der Wirtschaftskrise von 1929. Lange war es das einzige Restaurant, das in „Scala“ nach Konzerten und Aufführungen noch offen hatte. Die Liste der bekannten Gäste, deren Fotos einen von der Wand aus anlächeln, beginnt mit Thomas Mann und endet mit Toto Cutugno, Yves Montand, Harry Belafonte, Frank Sinatra, Liza Minnelli, Placido Domingo, Marcello Mastroianni und Maria Callas.

Die perfekte Burrata, große und saftige Pilze vom Grill und neapolitanische Sepien in Tomatensoße kombinierten wir mit einem lokalen Weißwein, waren aber vergeblich auf der Suche nach einem schon traditionell schlechtem WLAN…

Als krönenden Abschluss meines Aufenthalts in Mailand entschloss ich mich das Museum „Museo della Cultura“ zu besuchen, wo in diesen Tagen eine interaktive und multimediale Ausstellung zu Ehren des italienischen Künstlers jüdischer Abstammung, Amadeo Modigliani, zu sehen war. Das Museum befindet sich in einem Stadtviertel, in dem auch die „Milano Fashion Week“ stattfindet, sodass es ein regelrechtes Kunststück war am Nachmittag noch ein Taxi zu finden. Am Flughafen kamen wir in aller letzter Sekunde an.

„Wenn es auf der Welt nur den Mittelmeerraum gäbe, würde mir das reichen!“, schrieb ich kürzlich. Nur der Idee halber – „Wenn mir jemand sagen würde – bis zum Ende deines Lebens darfst du nur noch in ein Land reisen, welches Land wäre es? Die Antwort wäre, ohne groß darüber nachzudenken – Italien!“. Ein Land, das zwei Ministerien für Kultur hat, eines für die moderne Produktion und das andere für die Erhaltung des Kulturerbes, welches auf jedem Schritt zu sehen ist. Das Land ist schlicht und einfach dafür gemacht, hier sein hartverdientes Geld auszugeben. Sie haben alles – Sorrent, Capri, Positano und Amalfi, für die, die ihren Sommer am „Mittelmeer, wie es einst war“ verbringen möchten; Großstädte wie Rom oder Mailand, Skifahren an den Dolomiten, das zauberhafte Venedig, unzählige Weinberge in der Toskana, Umbrien, Positano, Cinque Terre, Sizilien, Sardinien und Kalabrien; den Comer und  Gardasee und den Lago Maggiore; Verona, Pisa, Florenz und Ravenna; Matera, das wie Jerusalem wie aus der Zeit von Jesus Christus aussieht und das nächstes Jahr die europäische Kulturhauptstadt sein wird… Vom Essen, Wein, Fußball, der Mode, den schönen Frauen, der Geschichte, Michelangelo, Caravaggio, Leonardo da Vinci, Modigliani, der Antike, der Renaissance, dem Barock und der modernen Kunst will ich gar nicht anfangen. Um einen Schlussstrich zu ziehen: Wir haben Glück, dass wir nur etwa eine Flugstunde vom schönsten Land der Welt leben.