Apocalypto: die erste Assoziation - Seit 2006 ist das Besteigen von El Castillo verboten
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Adeline Lorraine Schiller Black (80) aus San Diego war, für ihr Alter, ziemlich vital und machte häufig Rafting-Touren und Bergwanderungen. Sie verbrachte Weihnachten mit ihrer Familie in Mexiko, die nach drei Wochen Urlaub entschloss, am letzten Tag vor der Rückreise, am 5. Januar 2006, Chichén Itzá, die berühmte Ruinenstätte der Maya-Zivilisation auf der Halbinsel Yucatán, zu besuchen.

Adeline stieg erfolgreich die 91 Treppen der Zentralpyramide El Castillo hoch. Jedoch war der Abstieg über die steile Treppe genau zu Mittag, bei Temperaturen, die hier auch im Januar höllisch sind, keinesfalls einfach. Irgendwo bei der 46. Treppe rutschte Adeline aus, versuchte dabei sich an dem Seil, das der Reiseleiter hielt, festzuhalten, schaffte das jedoch nicht und fiel die Treppe vor den Augen der entsetzten Familienmitglieder und der anderen Touristen von einer Höhe von 18 Metern hinunter. Die Bereitschaftssanitäter vor Ort reagierten sofort, die Verletzungen waren aber so schwer, dass die ältere Dame vier Stunden nach dem Fall den Verletzungen erlag.

Der Charm des kolonialen Mexikos: Eingang in die Hazienda Chichén Itzá
Der Charm des kolonialen Mexikos: Eingang in die Hazienda Chichén Itzá

Für die Besitzer von Chichén Itzá (der Staat kaufte diesen Ort erst 2010) war es der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und so wurde das Besteigen der Pyramiden unverzüglich verboten. Die lokale Bevölkerung gab an, das wäre nur der Auslöser gewesen, da wegen der Beschädigung der Felsen von El Castillo, durch Kerben und Graffitis, der Druck seitens der Fachleute schon seit Jahren groß war, sodass das Besteigen verboten werden sollte.

Der fatale Steinreifen: Der Kapitän des Verliererteams wurde enthauptet
Der fatale Steinreifen: Der Kapitän des Verliererteams wurde enthauptet

Am 1. Mai, genau zu Mittag, kamen wir am Komplex Chichén Itzá an. Die Sonne brannte unerträglich und alle suchten Schutz im Schatten der Bäume oder der großen schwarzen Sonnenschirme, die, wie es schien, die Wärme nur noch mehr anzogen. Schon ein Blick auf die imposante El Castillo-Pyramide und ihre steilen Treppen ließ das Blut in den Adern gefrieren, obwohl ich 19 Jahre zuvor problemlos auf den Gipfel der Sonnenpyramide in Teotihuacán bei Mexiko-Stadt stieg. Wenn Frida Kahlo auf eine viel weniger steile Treppe dieser Pyramide mit einem verletzten Bein und in der Gesellschaft von Lav Trotsky (eine Szene aus dem Film Frida) steigen konnte, wieso sollte das für mich, gesund und munter wie ich war, ein Problem sein. Auf die Sonnenpyramide ist es noch immer gestattet hochzusteigen.

Kommen wir zurück zu Chichén Itzá, offiziell einem der sieben neuen Weltwunder. Bei einer Online-Abstimmung 2001 wurde Chichén Itzá in die Top 7 gewählt, gemeinsam mit der Felsenstadt Petra in Jordanien, der Chinesischen Mauer, dem Colosseum in Rom, dem Taj Mahal in Indien, Machu Picchu in Peru und der Christusstatue in Rio. Von allen sieben habe ich nur zwei noch nicht besucht: Petra und Machu Picchu.

Ein Karsttrichter mit eiskaltem Wasser (KARSTTRICHTER): Baden im Cenote Ik Kil
Ein Karsttrichter mit eiskaltem Wasser (KARSTTRICHTER): Baden im Cenote Ik Kil

Chichén Itzá wurde um das Jahr 600 gebaut und der Niedergang der Zivilisation begann einige Jahrhunderte vor der Ankunft der Spanier. Mel Gibson nutzte am Anfang des Films Apocalypto – der bei der Ankunft dort die erste Assoziation war – ein Zitat, das sich auf das Römische Reich bezog: „Eine überragende Kultur kann nicht von außen her erobert werden, so lange sie sich nicht von innen her selbst zerstört hat.“ Obwohl unser Reiseleiter beim Erwähnen des Films Apocalypto wütend abwinkte und Mel Gibson einen Rassisten nannte, ist es Tatsache, dass die Maya-Zivilisation ihre dekadente Phase noch vor der Ankunft der spanischen Eroberer erreichte, was denen wiederum die Eroberung um einiges erleichterte.

Noch bevor die Spanier ankamen, war Chichén Itzá verlasssen. Die Pyramiden, Heiligenstätten und Observatorien waren mit einer dichten tropischen Vegetation bewachsen, ähnlich wie Angkor Wat in Kambodscha.

Mitte des 16. Jahrhunderts, um das Jahr 1540, wurde in der Nähe der verlassenen mayanischen Stadt eine Hazienda gebaut, von der aus die Rinderzucht geleitet wurde. Das Gebäude wurde mit Steinen aus den Tempeln von Chichén Itzá gebaut, deren Teile auf der westlichen Seite der Hazienda, die heute ein Luxushotel ist, zu sehen sind.

Die Hazienda und das Gelände, wie auch Chichén Itzá, kaufte 1894 der US-amerikanische Vizekonsul in Mexiko Edward Herbert Thompson. 1910 machte er öffentlich, dass er dort ein Hotel errichten möchte, gab diese Idee dann aber vermutlich wegen der Mexikanischen Revolution (1910–1920) auf.

Mit Hilfe der Carnegie Institution for Science begann Thompson 1923 mit den ersten offiziellen Ausgrabungen der Ruinen der Zivilisation auf diesem Gebiet. Der einheimische Journalist und Fotograf Francisco Gómez Rul überzeugte den Gouverneur von Yucatán, einen Weg von Merida bis Chichén Itzá zu bauen und veröffentlichte den ersten diesem Ort gewidmeten Reiseführer, um Touristen anzuziehen. Sein Schwiegersohn Fernando Barbachano Peon, ein Pionier der Tourismusindustrie in Mexiko, fing damit an, die Besichtigung von Chichén Itzá bei Passagieren des Kreuzfahrtschiffes Ward Line zu bewerben, die in der Stadt Progreso, an der Küste von Yucatán, von Bord gingen. Peon überzeugte sie davon, sieben Tage auf Yucatán zu verbringen, um dann ins nächste Schiff zu steigen. Am Anfang waren nicht viele an dieser – wie es damals schien – bizarren Tour interessiert. Die Anzahl der Besucher stieg jedoch von Jahr zu Jahr.

Im Jahr 1926 beschuldigte die mexikanische Regierung Thompson des Diebstahls von archeologischen Schätzen auf diesem Gebiet und nahm ihm die Hazienda und das Land drumherum weg. Er verließ Mexiko und kam nie wieder zurück. 1935 starb er und der Oberste Gerichtshof Mexikos fällte das Urteil, dass Thompson gegen keine Gesetze verstieß, also wurde die Hazienda mit Chichén Itzá an seine Erben zurückgegeben, die sie wiederum bald an Fernando Peon verkauften. Er verwandelte sie mit seiner Ehefrau Carmen in ein Familienhotel. Seine Urenkel leiten das Hotel noch heute, während das Grundstück, auf dem sich die Ausgrabungen befinden, 2010 vom Staat gekauft wurde.

Besonders beeindruckend ist der Spielplatz (Great Ball Court), auf dem man einst in Teams versuchte, einen Ball aus rohem Naturkautschuk in den steinernen Reifen des gegnerischen Teams zu werfen. Der Kapitän des Verliererteams wurde am Ende des Spieles enthauptet, wovon Reliefs auf den Wänden zeugen. Hier befindet sich auch die Plattform des Schädels – steinerne Schädel, die für zahlreiche mexikanische Folklorelemente charakteristisch sind.

Während wir auf den Fahrer warteten, der uns zum Baden zu einem Cenote in der Nähe fahren sollte, weckte ein Buch mit dem Titel Begebenheiten auf einer Reise in Yucatán von John Lloyd Stephens in einem kleinen Souvenirladen meine Aufmerksamkeit.

Dieser US-amerikanische Forscher und Diplomat besichtigte 1841 die gesamte Halbinsel Yucatán auf der Suche nach Ruinen der mayanischen Zivilisation, die zu seiner Zeit mit dichter Vegetation bewachsen und vor den Augen der Öffentlichkeit versteckt waren. Sein Buch stellt ein spannendes Zeugnis dieser Zeit dar. Am interessantesten waren die Beschreibungen von Chichén Itzá und Tulum, den Ruinen der Maya-Zivilisation, die zu dieser Zeit völlig überwachsen waren.

Mit tropischer Vegetation bewachsen: Die Pyramide El Castillo auf einer Illustration aus der Mitte des 19. Jahrhunderts
Mit tropischer Vegetation bewachsen: Die Pyramide El Castillo auf einer Illustration aus der Mitte des 19. Jahrhunderts

Zur gleichen Zeit besuchte unter dem Einfluss von Lloyd Stephens auch der erste Europäer, der Chichén Itzá erforschte, die Halbinsel. Es handelte sich um den österreichischen Baron Emanuel von Friedrichsthal, der an diesem Ort auch die ersten Daguerreotypien (die frühere Version eines Fotos) der mayanischen Zivilisationsruinen machte. Der Baron Emanuel von Friedrichsthal war auch für seine Reisen durch Serbien und Griechenland bekannt, wo er bedeutende botanische Forschungen tätigte, die er später auch veröffentlichte. Während seiner Reise durch Mexiko 1841 erkrankte er an Malaria und starb ein Jahr später in Wien.

Die ersten Fotos von Chichén Itzá schoss 1857 der französische Forscher Désiré Charnay, der auch durch Lloyd Stephens dazu inspiriert wurde, Mexiko zu bereisen.

Während ich Stephensʼ Buch las, näherten wir uns dem Cenote Ik Kil, einem der zahlreichen Karsttrichter auf Yucatán, die heute viele Touristen anziehen, die nach den stundenlangen Wanderungen in der Sonne ein eiskaltes Bad nehmen. Ein Sprung ins von Lianen umgebene Wasser gibt dem Reisenden die finale Satisfaktion und ein erstklassiges Apocalypto-Feeling. Ein Schluck Sol-Bier mit einem Stück Zitrone und danach zurück nach Cancún.

Wie bei meinem ersten Besuch vor 19 Jahren hinterließ Mexiko den Eindruck des perfekten Reiseziels, denn es hat einfach alles: Kultur, Geschichte, große Städte, Ruinen von alten Zivilisationen, Natur, Spaß, exotisches Essen und Getränke… Bei einem Kaffee sprachen wir mit dem mexikanischen Botschafter in Belgrad ein paar Tage vor der Reise darüber, warum sein Land neben all den Problemen und Schwierigkeiten die 15.  größte Wirtschaftsmacht der Welt und die 2. größte Lateinamerikas (gleich nach Brasilien) ist. Menschen, die niemals in Mexiko waren, haben meist Vorurteile von sympathischen pummeligen Mariachis mit Sombreros und Schurrbärten bis zu skrupellosen Drogenbossen. Wenn sie die Wurzeln der mexikanischen Kultur sehen und sich von der Macht und Organisation ihrer Gesellschaft und Wirtschaft überzeugen lassen, wird ihnen klar, dass die Wahrheit nicht immer dem entspricht, was wir in Serien und Filmen sehen.